GÜNCEM CAMPAGNA: GRÜNDERIN DER CODINGSCHULE JUNIOR
“Kinder haben keine Angst, Fehler zu machen“
Ihre Eltern arbeiteten als Lehrer in der Türkei und mussten das Land verlassen. Güncem Campagna wuchs als junges Mädchen in Deutschland auf und machte Karriere. Fast zehn Jahre war sie für die globalen Consulter Saatchi & Saatchi und McCann Erickson tätig, begleitete das Marketing automobiler Brands wie GM Europe, Lexus oder Jaguar. 2013 wechselte sie mit Anfang 40 in die Selbstständigkeit, unterstützte mit ihrer Expertise Startups wie navinaut.de oder kauz.net. 2016 wird Güncem Campagna selbst zur Gründerin, verbindet ihre Erfahrungen, Lust auf Neues und das familiäre Bildungs-Gen zur erfolgreichen Geschäftsidee: Mit der Codingschule in Düsseldorf schuf sie einen generationenübergreifenden Ort digitaler Kompetenz und ein Lernlabor für die Berufe von morgen. 2019 startete sie die gemeinnützige Organisation Codingschule junior.
Güncem, einen guten und sicheren Job im internationalen Marketing aufgeben und sich selbstständig machen. War das ein geplanter Prozess oder gab es diesen einen Moment, wo du für entschieden hattest: Jetzt mache ich das, selbst wenn die Route des Wegs völlig offen ist?
Nein, definitiv war das kein geplanter Prozess. Ich komme aus einer Lehrerfamilie und bis dato kannte ich in meinem Umfeld nur Menschen mit Festanstellungen. Dass ich mich selbständig mache, konnte ich mir gar nicht vorstellen. Erst als ich auf der Suche nach dem perfekten Job nicht fündig geworden bin, kam mir die Idee mangels Alternativen.
Du hast zunächst mehrere Jahre Startups beraten. Was haben sie von dir gelernt und du von ihnen?
Ich hoffe, ich konnte den Startups vermitteln, dass die Wirtschaft nach bestimmten Regeln funktioniert und einzig eine gute Idee nicht reicht, um erfolgreich zu sein. Besonders junge Gründer*innen vernachlässigen die harten betriebswirtschaftlichen Aspekte einer Gründung. Von den Startups gelernt habe ich, dass die jüngere Generation nicht mehr den gradlinigen Lebenslauf verfolgt, wie es noch für meine Generation üblich war. Sie definieren ihre Werte neu. Durch die enge Zusammenarbeit habe ich auch einige meiner Wertvorstellungen infrage gestellt.
2016 war der Zeitpunkt deines eigenen Startup mit der Codingschule. Weshalb Coding statt Marketing?
In der Zusammenarbeit mit Startups konnte ich den Fachkräftemangel miterleben. Fast jedes Startup hat mich nach Programmierern gefragt. Jedes digitale Produkt, jede App, jede Anwendung wird programmiert. Der Bedarf nach Programmierer*innen ist enorm und wird noch zunehmen. Enttäuschend finde ich, dass es so wenige Frauen unter Programmierern gibt. Mein ursprünglicher Wunsch war es, Mädchen und Frauen an das Programmieren heranzuführen. Das Marketing habe ich nicht aufgegeben: Ich bin nach wie vor zuständig für Sales & Marketing in der Codingschule und Codingschule junior.
Hast du mit der Idee sofort offene Türen eingerannt oder gab es Situationen, wo man dir mit Skepsis begegnete oder du an Deiner Idee gezweifelt hast?
Die Idee fanden und finden eigentlich immer alle gut. Ich habe noch nie an der Richtigkeit der Idee gezweifelt, nur an der Wirtschaftlichkeit. Und an der habe ich oft gezweifelt.
Gibt es etwas, was du aus heutiger Sicht anders machen würdest?
Oh ja, ich würde zuerst an die Finanzierung denken und langfristiger planen. Ich habe einfach weitergemacht, auch wenn es nicht gut lief. Im Nachhinein hätten wir einige Produkte nicht weiterverfolgen dürfen und andere mehr pushen müssen.
Wie arbeitet ihr in der Codingschule? Welche Unterschiede gibt es bei den Angeboten für Unternehmen und private Interessenten, für Jüngere und Ältere? Oder sind die Grenzen fließend?
Die Codingschule junior hat ein Bildungsangebot für Kinder ab 8 Jahren und Lehrkräfte sowohl im offenen Kursprogramm als auch im Schulunterricht. Hier arbeiten wir mit praxiserprobten Lehrmaterialien. Die Kinder lernen spielerisch, wie ein Algorithmus aufgebaut wird und trainieren ihr logisches und mathematische Denken. Jugendliche ab 16 Jahren ordnen wir schon bei Codingschule unter, hier richten wir uns an Mitarbeiter, Fach- und Führungskräfte. Wir programmieren mit professionellen Programmiersprachen und behandeln die Themen Data Science und Künstliche Intelligenz. Das sind die Themen, die für die Wirtschaft von immer größer werdender Bedeutung sind und wo es an Fachkräften fehlt.
Wie gehen Erwachsene mit Coding um, wie tun es Kinder und Jugendliche?
Das kann man sehr gut in den Kursen beobachten: Kinder haben keine Angst, Fehler zu machen, sind neugierig und wollen schnell ausprobieren. Erwachsene sind bedacht, tüfteln erstmal, bevor sie etwas eintippen.
Coding ist Sprache und Sprache ist ein wesentlicher Schlüssel des Verstehens. Inwieweit ist die Sprache des Digitalen schon im Alltag angekommen, nicht als bequeme Anwenderoberfläche, sondern mit der Tiefe ihrer Möglichkeiten? Sind wir da eher eine Gesellschaft mit Entwicklungspotenzial oder schon ziemlich fit?
Alle Studien belegen, dass Deutschland im Digitalen nicht sehr fit ist. International gesehen landen sowohl Schülerinnen und Schüler, aber auch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im mittleren Feld. Sicherlich muss nicht jede und jeder Programmieren können, aber es ist sinnvoll, dass die gesamte Gesellschaft ein Grundwissen über digitale Prozesse, Möglichkeiten und Risiken hat. Ich benutze immer das Beispiel aus dem Schulbereich: Wir sind umgeben von biologischen, chemischen und physikalischen Prozessen und daher lernen wir die Grundlagen in der Schule. Wir sind aber auch mittlerweile umgeben von digitalen Prozessen. Sollten wir dann nicht auch wissen, wie Algorithmen funktionieren, was mit unseren Daten geschieht oder welche Grenzen die Künstliche Intelligenz hat?
So ziemlich jede Branche sucht Spezialisten für das Digitale. Welche Skills sind gefragt und gibt es Jobs, die heute noch nicht klar definiert sind und morgen unter einem neuen Namen selbstverständlich sein werden?
Tatsächlich werden sehr viele sogenannte Data Scientists benötigt, also Fachkräfte, die Daten sammeln, bereinigen, auswerten und analysieren. Aktuell ist nur der Oberbegriff Data Scientist geläufig. In den nächsten Jahren werden Spezialisierungen (z. B. Data Steward) im Bereich der Datenanalyse entstehen. Das betrifft so gut wie jede wachsende Technologie, also auch die Felder Künstliche Intelligenz, Cyber Security oder Blockchain.
Die Codingschule Junior. Weshalb ist sie gemeinnützig? Nachhilfe und Digital Fitness sind doch profitable wirtschaftliche Modelle.
Jedes Kind sollte einfachen und kostenlosen Zugang zu Bildung haben. Und wenn es sich auch noch um digitale Bildung handelt, die für die berufliche Zukunft aller Kinder so bedeutend ist, sollte es nicht um Gewinninteressen einzelner Menschen gehen. Wir arbeiten aus Überzeugung gemeinnützig, vergeben Stipendien und versuchen möglichst niedrigschwellig unser Wissen zu vermitteln. Auch im offenen Kursprogramm der Codingschule gibt es einen Spezialtarif für Studenten und Azubis.
An welchen Moment in der Codingschule junior erinnerst du dich besonders gerne?
Es sind mehrere. Und ich glaube, weil sie sich wiederholen, gibt es die Codingschule junior. Am letzten Tag eines Kurses entwickeln die Kids ihre eigenen Projekte und präsentieren sie vor der Gruppe. Immer wenn ich sehe, dass die Kinder mithilfe von Codes die unglaublichsten Dinge entwickelt haben, macht mich das sehr froh. Ein besonderes Highlight ist der Girls Coding Club für mich. Wenn ich höre, dass die Mädchen nach dem Kurs Programmiererin als Wunschberuf angeben, hüpft mein Herz vor Freude
Hast du einen persönlichen Lieblings-Code?
Als Nicht-Technikerin muss ich da passen. Ich freue mich aber über besonders kundenzentrierte Anwendungen. Technik soll ja das Leben des Menschen erleichtern und das ist dann immer der Fall.
Die Was-wäre-wenn-Frage: Güncem Campagna ist Deutschands Digitalministerin. Was wären deine drei wichtigsten Ziele, die schnell und nachhaltig umgesetzt werden sollten?
1. Schulen unbürokratisch bei der Digitalisierung unterstützen
2. Verpflichtung aller Lehrkräfte zu Fortbildungen zu digitalen Themen
3. Bildungsoffensive für die gesamte Gesellschaft
Reality-Check: An welcher Alltagsanwendung verzweifelst du immer wieder?
Ich bin die größte Chaotin mit Passwörtern, schwanke zwischen Sicherheit und Einfachheit und vergesslich bin ich auch noch. Ich brauche oft mehrere Anläufe, um mich irgendwo anzumelden. Und was mich auch jedes Mal Nerven kostet, sind Updates. Wir nutzen in der Codingschule sehr viele digitale Tools, beispielsweise für den Newsletterversand. Immer wenn wir denken, wir hätten alles verstanden, kommt ein Update und schmeißt alles über den Haufen.
Du bist Gründerin, Unternehmerin und Mutter. Welches digitale Gadget schätzt du und welches würdest Du gerne weniger präsent im Alltag haben?
Ohne mein Smartphone würde ich Arbeit und Privates nicht so gut koordinieren können. Für mich sind soziale Medien sehr wichtig, weil ich mich sehr früh und schnell über allmögliche Themen informieren kann. Wichtig sind für mich auch die Apps für Carsharing, E-Scooter und ÖPNV. Mein Smartphone ist sehr präsent im Alltag. Das könnte wohl weniger sein.
Was ist für dich das kostbarste Gut im Leben?
Neben den Menschen, die ich liebe, ist das Wohl die Freiheit. Die Freiheit sagen und tun zu können, was ich möchte. Die Freiheit, mit Menschen zusammen zu sein, die ich mag. Die Freiheit, meine Ideen einbringen und realisieren zu können.
Welchen Satz möchtest du Entrepreneuren mitgeben, die mit eigenen Startups die Zukunft mitgestalten möchten?
Unternehmertum ist harte Arbeit, ihr werdet oft zweifeln und scheitern. Das Rezept für Erfolg: Aufstehen und weitermachen. Jeden neuen Tag.
Mit Güncem Campagna sprach Paul Heilig.
Text: © Impact Funding — Foto: © Codingschule/Güncem Campagna